30.12.2009

Das tote Haus am Meer.

Ein riesiges weißes Gebiss hängt über dem Meer. Das Gebiss eines Haies. Irgendwo zwischen dem Wasser, dem Himmel und dem Horizont.

Selbst in dieser hellen Nacht ist der Kontrast zwischen dem Dunkelblau des Atlantiks und dem Schwarz des Horizonts, sehr stark zu dem riesigen Hai-Gebiss.

Wie von hinten angestrahlt zeigen die scharfen Zähne in die Richtung des Strands auf dem ich sitze.




Das Gebiss muss nahezu 50 bis 100 Meter Durchmesser haben und 20 Meter hoch sein. Sonst könnte ich es doch nicht sehen von meinem Platz aus. Ich sitze keine 5 Meter von der Brandung entfernt im trockenen Sand und schaue in die Nacht. Der Sand auf dem ich sitze gehört zum Stand am „Ocean Park“-Stadtteil von San Juan, der Hauptstadt von Puerto Rico. Keine 30 Meter hinter mir beginnt ein kleiner Streifen Palmen und Büsche. Links und recht von mir ist Kilometer lang nur Strand und Brandung. Auch wenn es noch 25 Grad warm ist, ist der Strand natürlich nachts um 1 Uhr Menschen leer.

Der Stand schon. Die Büsche aber nicht.

Denn sie kommen aus den Häusern, den Bungalows und den Hotels die hinter dem Streifen mit den Palmen liegen.

Die Gestalten der Nacht. Die Sklaven der Lust. Die, die an der NeuGIER und Sehnsucht leiden.


Eigentlich muss ich doch Angst haben. In der Fremde. Nachts. Menschen kommen aus dem Dunkeln, ohne das mann sie erkennen kann.

Aber auch in der Karibik gelten die nicht kommunizierten, aber immer fort geltenden Regeln des schwulen Cruisings. Es braucht ein paar Büsche und Bäume, mehrere Ein- uns Ausgänge, oder sollte ich Notausgänge sagen? Falls die Polizei (immer weniger) oder die Schwulenklatscher kommen (leider immer noch).

Aber selbst die Erscheinung des Hai-Gebisses hat mich eher neugierige gemacht, als ängstlich.

Ist es der Geist eines Karibischen Piraten? Ist es ein leicht örtlich verwirrtes Phänomen des Bermuda-Dreiecks? Oder einfach nur ein Flugzeug, das eine Wolke anstrahlt?

Das Gebiss schließt sich langsam und verblasst gleichzeitig. Als es ganz vom tiefschwarzen Horizont geschluckt wird, steh ich auf und gehe in Richtung der Palmen.

Der ständige leichte Wind sorgt für angenehme Temperaturen und ungewöhnliche Geräusche. Da ist einer. Dort stehen drei zusammen. Da läuft einer aufgeregt herum. Wieder einer steckt verlegen die Hände in die Hosentaschen. Aber alle halten sich an die eiserner Regel der Nacht: Stille!

Alle sind auf die Stille eingeschworen. Sie streunen durch die Büsche mit einer Regelmäßigkeit, die nur noch von der Brandung übertroffen wird.

In dieser Nacht ist meine Neugier größer als meine Lust. Oder auf Deutsch: ich bin schwer wählerisch.

Bald habe ich den Streifen mit den Büschen durchforstet. Die optimalsten kleinen Rückzugsstellen identifiziert. Die Buchten der Lust auf meiner inneren Landkarte eingetragen. Die viel versprechensten Trampelpfade geortet. Die populärsten „Kreuzungen“ inspiziert.

Deswegen habe ich langsam ein Auge für die Häuser hinter den Büschen.



Ein Haus fällt mir besonders auf. Links ist es von einem zwar eingezäunten, aber unbebautem Grundstück umschlossen. Rechts bildete eine Stichstrasse zum Strand die Grenze.

Zum Strand und zu den Büschen hin ist der Eingang. Es ist verlassen. Heruntergekommen. Es hat kein einziges Fensterglas mehr und ist über und über mit Graffitis übersäht.

Es hat nur ein Hochparterre und einen ersten Stock. Die Dunkelheit der Nacht, das Licht, der einen als letztes noch funktionierenden Straßenlaterne und das reflektierende Licht des Strandes hüllen das Haus in ein geheimnisvolles Licht. Die leeren Läden die mal Fenster hatten, sind wie tote Augen eines Riesen und die Graffitis strahlen in diesem besonderen Licht ganz besonders. Wie von innen heraus.

Mann braucht einige Zeit bis mann aus der Fülle an Graffitis die einzelnen „Schulen“ unterscheiden kann.

Der Eingang ist als Treppe gestaltet, die sowohl von links wie auch von rechts begehbar ist und dann als Treppe zur Tür führt. Die Tür und die Fenster auf der Ebene des Hochparterres sind zugemauert. Überall liegt vor dem Haus auf dem Boden Müll und Schutt.

Trotzdem zieht mich das Haus wie magisch an. Eine Mischung aus Abenteuer, Magie und Neugier lassen mich um das Haus laufen und einen Eingang finden. Abseits der Straße ist ein Fenster das zugemauert war, aber wie von fleißigen Spechten aufgeschlagen wurde.

Gerade sehe ich noch Körper sich ins Hochparterre durch das Fenster ziehen. Spätestens jetzt habe ich Feuer gefangen. Ich nehme denselben Weg ins Haus und mache mich auf in Ungewisse.

Kaum ist mein Körper ganz im Haus, der Sand von den Händen und der Kleidung abgeklopft, fangen meine Augen sich an die noch größere Dunkelheit zu gewöhnen. Zweifelsfrei ist das hier früher die Küche gewesen. Die letzten Überbleibsel sind ein alter verrosteter Ofen ohne Tür und Herdplatten. Und ein Tisch der nur noch drei Beine hat und zwischen Stehen und Fallen schwebt.

Der Boden ist dafür über und über mit Sperrmüll, Tüten, Reifen und alten Magazinen übersäht. Fast schon wie bei einer Messi-Wohnung führen aber kleine Trampelpfade zum nächsten Zimmer.

Das Haus hat keinen Geruch. Nicht die Hitze hat etwas bewirkt. Noch hat die Zeit einen Gestank hinterlassen.

Das irritiert mich zwar. Aber jetzt bin ich schon so weit gekommen, jetzt will ich auch alles sehen. Die Empfangshalle war bestimmt mal sehr ansehnlich gewesen. Zusammen mit dem Treppenhaus bildet sie die Rückseite der zugemauerten Eingangspforte. Sie sind die nächsten Stationen für mich nach der Küche.

Sicherlich haben hier keine armen Menschen gelebt. Ich inspizier alle unteren Räume und stehe wieder in der Mitte der Empfangshalle.

Dann nehme ich mir Zeit auf meinen Atem und das Haus zu hören. Ich stehe bewegungslos und versuchte das Haus zu fühlen.

Nicht richtig laut, nicht richtig wirklich deutlich, und auch nicht wirklich zuortbar, fühle ich mehr, als das ich es höre, etwas im ersten Stock.

Nur sehr langsam und Stufe für Stufe gehe ich die Steintreppe nach oben. Ich höre auch mehr meinen Puls als meine Schritte. Und ich fühle wie sich mein Körper vorbereitet auf Angriff oder Flucht.

Während im Hochparterre nur ein große Wohn- und Esszimmer ist, gibt es hier oben 6 Zimmer. Und jetzt sehe ich es. Jetzt sehe ich die Karawane. Rein und raus gehen sie. Von Zimmer zu Zimmer. Deutlich kann ich ihre Gesichter und Körper sehen. Kaum aber hören.

Hier im ersten Stock ist mehr Licht, weil es keine Fenster oder Fensterladen gibt, noch diese zugemauert waren.

Das eiserne Gesetz des Cruisings gilt auch für diese Männer. Keiner spricht oder macht unnötige Geräusche. Keiner lacht oder macht mit einem Laut auf sich oder das Geschehen aufmerksam.

Auf den ersten Blick sehe ich ca 10-15 Männer, die von Zimmer zu Zimmer gehen. Noch stehe ich auf der letzten Stufe der Treppe. Noch inhaliere ich die Situation. Die Mischung aus Vorsicht, Neugier und Überraschung.

Die Stille ist so fürchterlich, dass sie sogar meine Geilheit unterbricht. Die 6 Zimmer waren sicherlich Schlafzimmer gewesen. Alle bewegen sich mit großer Umsicht und entspannter Langsamkeit.

Alle Zimmer sind leer und mit viel weniger Müll beladen als die Zimmer in der Hochparterre. Langsam nehme ich Bewegung auf und gehe in das vermutlich größte Zimmer. Die Straßenlaterne aus der Stichstrasse scheint wie ein Spotlight in den Teil des Zimmers, in dem ca 8 Männer all die Dinge miteinander tun, die ich aus einschlägigen Video oder Vorabendserien kenne.

Ein unreales Geschehen von Sex ohne Geräuschen, von Handreichungen ohne Leidenschaft, von Penetrationen ohne Liebe. Der Knoll der Männer wird nie größer oder kleiner, denn es kommen und gehen die Männer. Zum nächsten Zimmer. Zum nächsten Knoll. Es scheint auch keiner zu kommen, geschweige, denn zu ejakulieren.

Sowohl im Haus wie in den Knollen scheint Zeit nicht zu existieren. Ich verschaffe mir eine detaillierte Übersicht über das Treiben, die Männer und die Zimmer. Ich starte meine Einwechslung ins Spiel.

Ich betrete ein Zimmer und gehe zielstrebig an den Rand des dortigen Knolls. Alles ist recht demokratisch. Jeder ist am geschehen gleichberechtigt beteiligt.

Das scheint aber nicht für mich zu gelten. Der Knoll ist sich einig. „Ich darf nicht mitspielen“. Na ja … es gibt ja noch 5 weitere Räume.

Nach dem letzten Zimmer bin ich nun nicht mehr sicher. Sind die alle Zombies? Bin ich unsichtbar? Habe ich etwas an mir, das mich ausschließt?

Wie eine Glaswand ist zwischen mir und den Junx. Wie als ob ich auf der anderen Seite eines Spiegels bin. Sie sehen mich einfach nicht. Oder mögen nicht, was sie sehen. Nicht gerade aufbauend für mein Ego.



Aber auch wieder nicht überraschend für mich. Meine Stimmung ist seit Wochen seltsam. Der Abend fing schon so seltsam am Stand an. Und das ganze Haus macht mit seiner toten Atmosphäre schon einen seltsamen Eindruck auf mich.

Bevor mein Ego sich endgültig verabschiedet, gehe ich wieder ins Hochparterre runter und lass den Bienenstock mit fleißigen Sex-Arbeits-Bienen hinter mir. Ich stelle mich wieder in die Mitte der Empfangshalle und höre noch mal in mich rein.

Ich schließe die Augen und fühle das Haus. Ich lasse das ganze Abstruse der Nacht und des Hauses zu. Saug es in mir auf.

Die Augen öffnen sich langsam und ich sehe direkt auf die zugemauerte Pforte und nehme plötzlich unter der Unmenge an Graffitis ein ganz besonders wahr. Es ist mit weißer Farbe gespritzt worden. Im oberen Teil der Mauer, die jetzt da steht, wo mal eine Tür war, sehe ich ein Gebiss eines Haies. In der Mitte dieses Gebisses ist ein Satz mit roter Farbe geschrieben: Love kills.

Ich springe vorsichtig aus dem Fenster zurück auf den Garten hinter dem Haus und erkenne endlich an, dass Liebeskummer keine Zeit, noch Ort, noch Lust kennt.