14.06.2012

Der letzte Kieselstein.

Ich halte meine Füße in das kalte Nass und erfreue mich an dem schönen Tag. Das Nass ist ein schmaler klarer Bach, der so schnell fließt, dass das man kaum hinterhersehen kann. Er ist so klar, dass ich alle Kieselsteine in seinem Flussbett einzeln sehen kann. An seinen Rändern sind wilde Büsche und hohes Gras. Einfach viel Natur und viel Buntes. Der Horizont wird von Hügeln und Bergen gesäumt, die mich neugierig machen, was denn so alles hinter ihnen versteckt sein könnte.

Es ist so heiß, das mir der Bach meine Füße herrlich kühlt. Ich sehe auf die Kieselsteine und erkenne, wie sie neben- und aufeinander liegen. Ich nehme jeden Stein wahr in seiner Form und seiner eigenen Gestalt. Manche sind groß, manche mickrig und wieder andere rund und wieder andere eckig.

Aber alle zusammen sind wunderschön und bilden ein Flussbett, wie man es sich nicht schöner vorstellen kann. So weiß und klar und so harmonisch. Alle dies und auch ich sind in einen heißen Sommertag gehüllt.

Nehmen wir mal einen solchen Kieselstein heraus und nennen ihn Tel Aviv. Nennen wir ihn Tel Aviv zum Pride 2012. Eine Stadt, die stolz ist auf ihre hedonistische Grundeinstellung. Auf ihre Art, das Leben zu feiern.

Bei der ach so gefürchteten Einreise mit vielen Fragen geht es nur mühsam voran und lässt einen erahnen, wie das Thema Sicherheit hier präsent ist in Israel. Aber kaum sagt mann das mann zur Gay Pride kommt, geht alles schneller, einfacher und freundlicher. Etwas, was ich mir so im Moskauer Flughafen nicht vorstellen kann.

Die Stadt wurde ja erst 1907 gegründet und hat ein großes Viertel, das rein im Bauhaus-Stil gebaut ist und zum Weltkulturerbe gehört.

 
Aber Renovierung, Stadtplanung oder –entwicklung sind für eine Stadt keine Option, wenn sie mit dem Leben beschäftigt ist und mit dem Zelebrieren des Hedonismus. Somit ist sehr viel und sehr stark runtergekommen. Es gibt kaum ein klares Stadtbild und die Stadt hat alle Fehler gemacht die Rotterdam und Köln beim Wiederaufbau nach dem Krieg gemacht haben. Nur, ohne dass es je zerstört war. Wohnraum geht vor Schönheit. Masse vor Ordnung. Geschweige denn, dass eine genialer Stadtplaner, wie ein Georges-Eugène Haussmann in Paris, ein oder zwei große Achsen in die Stadt bringt.
 
In dieser Woche ist die GANZE Stadt an allen Stellen mit Regenbogen-Fahnen gepflastert. Der Pride ist schon lange keine rein nationale Sache mehr und so hat sich die ganze schwule internationale Party-Schickeria hier zusammengerottet, um hier die Gay Pride zu feiern.

Aber was ist hier der Pride? Über was kann mann hier stolz sein? Was zeigt mann hier, was mann erreicht hat? Diese Fragen beantwortet ein Foto viel besser als jeder Text und jede Auflistung von Fakten. Diese beiden händchenhaltenden Soldaten sind die Antwort.
 
http://mobil.queer.de/mobil_detail.php?article_id=16701
Aber wie in allen Städten und Ländern sieht mann auf der Pride Parade eher die Menschen, die von viel Kampf und Arbeit anderer profitieren, als die, die gekämpft haben.

Die Parade hat kaum mehr als 8 Wagen, dafür aber sehr viele Mitgeher und Zuschauer. Und der Pride endet am Strand und feiert dort seine ganz eigene Party.

Diese Party bringt nur zu Ende, was die Bars auch sonst schon beginnen. Dies Stadt ist in dieser Zeit wie ein riesiges Honigfass und mann fühlt sich wie eine Biene, die langsam im Honig ertrinkt.

Es ist die totale visuelle Überforderung. Schönheit in jedem Zuschauer, in dem Passanten, in jedem Strandbesucher und ihn jeder Bar. Mann wird so reizüberflutet, das mann gar nicht merkt, wie einen der Honig am Fiegen hindert.

Und das ist in der Bar und der Disco genauso. Relativ schnell merkt mann aber, dass es immer so ist wie in einem Möbelhaus am Sonntag: geöffnet – aber kein Verkauf und keine Beratung!
 
„Show off“ und „Produktpräsentation im rechten Licht“ gehen zu Lasten von Flirten und "einfach Party machen".

Die Stadt scheint nicht „ethnisch gesäubert“ zu sein, sondern „geriatrisch“. Menschen über 35 kommen fast nicht vor. Zumindest im schwulen Kontext.

An jeder Ecke der Stadt gibt es das Angebot, zu konkurrieren, um das schönste Gesicht, den besten Bizeps, den schönsten Körper etc...

Online wird dann erst aus den „gesichteten Regalen“ das passende Produkt virtuell bestellt und konsumiert.

Das alles macht etwas mit einem. Macht etwas mit mir. Dort, wo ich früher die Konkurrenz angenommen habe, ziehe ich mich heute zurück. Dort, wo ich früher nicht genug Stimulus bekommen habe, suche ich heute das Einfache und das Wenige.

Als Schlossgespenst gehe ich durch diese Szenerie und habe weder rostige Rasseln, um mich bemerkbar zu machen, noch kann ich als Gespenst gesehen werden.


Langsam wird es mir hier am Bach ein wenig zu frisch. Es ist nicht mehr heiß, sondern nur noch warm. Die Hügel und Berge versprechen nichts Neues hinter ihren Gipfeln. Irgendwie passt der Kieselstein nicht mehr zu den andern im Bach. Es ist wohl der letzte seiner Art.