23.09.2020

Von Brotkrümelen und vom Geld.

Es ist ein wenig kalt hier. Die Metropolitan Opera hatte ihre Klimaanlage auf Maximum gestellt. Draußen war ein heisser Sommer. Hier drin war es aber fröstelnd kalt.  


Ich hatte Gänsehaut. Halb wegen der kalten Luft. Halb wegen der Arie die gerade gesungen wurde: Nessun Dorma.


Und jeder Tschibo-Classic-Collection Kommerzialisierung trotzend, weine ich hier in der New Yorker Oper. Berührt mich diese Arie. Die Inszenierung staubt zwar mehr als die Kostüme. Aber die Stimme hebt mich in den Himmel. Dieser Himmel ist an diesen Tag voller „erste mal“.




Ich war Mitte 20. Und das erste mal in New York City. Hatte keinerlei Geld und kleinerlei Ressourcen. Dachte ich. 


Wie überlebte ich in NYC ohne Geld? 

Wie schafft ich es am Ende meines Aufenthaltes reicher als am Anfang zu sein?

Wie bin ich bloss hier hingekommen? Und wie in die Oper?


Als Student hatte ich mir alles Geld zusammen gespart. Ein Jahr lang. Ich wollte an einem Fußball-Turnier teilnehmen in Houston. Und um mein Budget zu schonen, hatte ich eine wilde Flugroute über Istanbul gewählt, die mir 48 Stunden Aufenthalt in Manhattan schenkte, auf meinem Weg nach Texas. Mein Gespartes ging für den Flug drauf. So das ich zwar dieses Geschenk der 48 Stunden in NYC hatte, aber ansonsten Pleite war. 




Das erste mal New York ist wie nach Hause kommen in sein altes Zimmer bei seinen Eltern. Alles hat sich geändert, aber alles erinnert einen an früher. Das Fernsehen und das Kino hat mir New York öfter gezeigt als, ich mir selber irgend eine andere Stadt. Ich war nie vorher da und fühle mich trotzdem wie zuhause. Einfach als würde ich dazu gehören.


Bis darauf das New York allemal eine Stadt ist, wo Geld der einzige Türöffner ist. Und man ohne Geld vor verschlossen Türen steht. Und Geld hatte ich absolut keines als junger Student. 


48 Stunden ohne Schlüssel. Sollte ich einfach die 2 Tage vor den Fenstern von Tiffany stehen und durch die Schaufenster meine Sehnsucht leben? Sehnsucht nach den Räumen, die man nur mit dem Schlüssel Geld betreten kann? 


Ich war da und man hat dort keinen Platz und sieht nichts, weil diese Idee schon viele andere hatten und man wie die Mona Lisa im Louvre gar nicht zum sehen bekommt, vor lauter anderer Schlüssel-loser. Der Bürgersteig vor Tiffany ist immer voll.



Breakfast at Tiffanys


Der Bus vom Flughafen nach Manhattan ist günstig und mach einen direkt demütig. Meine beiden Nächte auf der Insel, schlief ich auf dem Sofa eines Sport-Kamaraden. Ein Hotel oder Hostel war einfach nicht drin. Ein einfaches Fragen hat gereicht und David hat mich mir seine Tür aufgemacht. Auf seine Frage, was ich in den 48 Std. vor habe, antworte ich ehrlich: „Nichts, weil ich kein Geld habe.“


Und dann bin ich doch zu den besten Museen dieser Welt gegangen, an Tagen an dennen sie umsonst öffnen. Habe mir Manhattan erlaufen. Und noch viel wichtiger, erhört. Jede Stadt hat eine ganz eigenen und bestimmen Geräusche-Teppich. So natürlich auch New York. Ich ging in die Nähe des Hotels in dem John Cage in den 60ern beschloss hat, das dieser Teppich niemanden und allen gehört und er ihn deswegen zu Musik erklärt und zur sogenannten Neuen Musik formte.


An dieser Strassenecke stand ich lange und schloss meine Augen und hört was John Cage damals gehört hat. Seine spätere Ballet Musik höre ich jetzt schon seit 20 Jahren.


Nach diesem „Konzert“ und der Hitze des Sommers war ich ein wenig Müde und wollte mich in den Central Park legen und ausruhen. Kaum hatte ich mir einen ruhigen Flecken Gras ausgesucht, schrie mich überraschend eine Gruppe älterer Damen zu sich, auf eine große Picknick Decke. Ich bin nicht sicher, ob das Haarspray der vier Damen alleine für das Ozon-Loch damals gesorgt hat, aber es war mit Sicherheit auch nicht förderlich gewesen. Ganz Hausfrauen aus Brooklyn, hatten sie mehrere Taschen voll mit Tupperware, die überquellen mit allem was man sich so als deftiges Amerikanische Essen vorstellen kann. 



Sie hatten mich angeschrien, weil ich natürlich keine Decke hatte und sie meinten Grasflecken würden aus weissen Hosen nur sehr schwer wieder rausgehen. Spätestens als sie merkten das ich Deutscher war, hatte ich die alleinige Verantwortung alle Tupperware leer zu essen. Die sind ja viel zu schwer, um sie nach Brooklyn zurück zu schleppen. :-)

Alle vier sind Einwanderer aus Stuttgart und machen einmal im Jahr dieses Picknick im Central Park, um ihren Kindern und Ehrenmännern zu entfliehen. Ein Tag Urlaub im Sommer im Central Park.


Keine 24 Stunden auf der Insel und ich wahr schon voller Kunst aus den Museen und hatte ein „Konzert“ gehört und war jetzt wirklich viele Kilo schwerer.


Und jetzt sitze ich in dem weissen Hemd „van Laacke“ meines Gastgebers in der 10 Reihe in der Metropolitan Opera. Er hatte es mir, für mein erste Turandot geliehen. Es kostet damals sicherlich soviel wie ich an zwei Tagen verdient hatte. Die Karte schenkte mir sein Vater, der an dem Abend arbeiten musste und nicht selber gehen konnte


Ich fröstle und lasse mich in die Arie fallen:


Niemand schlafe! Niemand schlafe!

Auch du, Prinzessin,

in deinem kalten Zimmer

siehst die Sterne, die beben

vor Liebe und Hoffnung!

Aber mein Geheimnis ist verschlossen in mir,

niemand wird meinen Namen erfahren!

Nein, nein, auf deinem Mund werde ich ihn nennen,

wenn das Licht glänzt!

Und mein Kuss wird das Schweigen beenden,

durch das ich dich gewinne!


Ich weine. Sehr. Weil ich an diesem Tag wie der der Mann, der die Prinzessin verehrt, nicht den Menschen zeige, der ich bald sein werde. Oder mein Name sagen um zu zeigen, wer ich in der Vergangenheit war. Sondern einfach im JETZT war und begehrte.






Ich streckte mich in meinen Sitz und wie bei einem kalten Winter Wind und schob meine  Hände in meine Taschen um mich zu wärmen. Und als ich sie rausholte, sah ich wie sehr ich umgeben war von vielen Schlüsseln von den ich nichts wusste.


Den Schlüssel zu dem Apartment von meinem Sportkumpel. In der anderen Hand fand ich Brotkrümel, die ich noch vom Picknick drin hatte und mich an den Schlüssel erinnerte des Zufalls. Ich sah an mir das Hemd, das ich mir nicht leisten konnte, aber mir von einer Zukunft nach meinen Studien erzählte. Und ich sah eine Eintrittskarte zu einer Oper in meiner Hand, die mir den Schlüssel schenkt zu meiner längsten Beziehung in meinem Leben: der  Beziehung mit der Kunst. 


Ich hatte an einem Tag öfter „das erste mal“ erlebt, als jemals sonst. Und es war wie im Himmel. Und es war nicht New York und auch nicht das Reisen. Es war meine Entscheidung im „Hier und Jetzt“ zu sein, offen zu mir und anderen zu sagen, was ich habe und was nicht. Und der Mut nicht alles vorher sicher zu machen, bevor ich es erlebe.


Kurz und gut. Geld ist ein Schlüssel. Aber nur einer. Und ich vergesse immer wieder, wie viele Schlüssel es sonst noch gibt. Und vielviele Räume sich mit Geld gar nicht öffnen lassen.


„A streetcar named desire“ hat das Prinzip schon als Theaterstück bzw. Film gezeigt. Es fasst das Thema mit den Schlüssel wie folgt zusammen:



"Whoever you are... 

I have always depended on the kindness of strangers."


Das Prinzip lehrt einen auch den Satz: „Geld kostet auch.“Vermeintliche Sicherheit beim Reisen, weil man Geld hat, schliesst zum Beispiel mindestens den Zufall und „Kindness“ von Fremden aus. Sicherheit klaut einem den Mut für neues. Und und und. 


Ich bin nicht mehr Mitte 20. Aber auch als 53 jähriger setze ich auch heute noch dieses Prinzip in meinem Leben sehr stark um. Allerdings nur in einem Bereich meines Lebens. Das sollte ich dringend ändern. Unsicherheit macht erst für den Zufall die Türe auf. 


Aber meine letzten 24 Stunden in Manhattan widme ich ganz und gar nur einem Lebensbereich. 


Dem Schlüssel der Liebe und der Lust. 


Ich verlasse die Oper beseelt. Noch voller Musik und nass im Gesicht von der Arie, laufe ich ungeschickt über John im Foyer. 


Sein Lächel ist mindestens ein Schlüssel. 


Wir steigen in ein Taxi und fahren zusammen nach Chelsea. 


























11.09.2020

Die wilden 16.

Ein Moment scheint uns immer lang. Ein Wimpernschlag hat fast keine Zeit. Unser Körper weiss nicht was Zeit ist, also auch nicht wie lange eine Sekunde ist.


Manchmal merken wir, wie schnell das ist, wenn wir den Moment festhalten wollen und die Zeit anhalten wollen.


Für den Kuss der nicht vergehen soll. Für die Zärtlichkeit die gerade so gut tut. Oder für das Schöne, was wir gerade betrachten. Oder das Schöne was wir gerade Essen wollen. Oder das Schöne was wir gerade begehren.


Manchmal ist diese eine Sekunde wie eine Ewigkeit. Wenn wir Angst haben, was nach dieser Sekunde passieren wird. Zum Beispiel, wenn man auf den EINEN wichtigen Anruf wartet. Oder in der Pause in der sich der Andere entscheidet, ob er auch antwortet mit: „Ich liebe dich!“




Aber das sind beides Momente, wo Zeit für einen wichtig wird, für Gründe die Ausserhalb von einem liegen.


Was ist mit Momenten die von Innen wichtig sind? Wie fühlen die sich an? Und dehnt sich da auch die Zeit wie bei der Angst vor dem Moment. Oder verkürzt sich die Zeit da, wie bei den Momenten, die wir gern festhalten wollen?


Ich glaube das in solchen Momenten Zeit keine Rolle spielt. Sondern in diesem Moment gibt es einen besonderen Ton. Einen Ton der Harmonie. Und dieser Moment zeichnet sich dadurch aus das er ganz viele Töne nicht hat. Es ist ein Ton der Stille.


Das hat mir Jerry beigebracht. Jerry trägt heute ein Polo auf dem die Zahl „Sechzehn“ steht. Zwei grosse blaue Ziffern bedecken fast seine ganze linke Brust. Das T-Shirt ist weiss. So wie eine Leinwand. Auf der Rückseite des T-Shirts ist ein grossen Signal Roter Ball zu sehen. Wie die Französische Tricklore verspricht das T-Shirt Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.



Dieses Versprechen wird aber Jerry einlösen  und nicht Frankreich.


Zusammen mit seiner schwarzen Haut und seiner starken und trainierten Brust, sieht die Zahl 16 viel grösser aus, als als sie wirklich ist. Das wird nicht zuletzt von dem ganzen Sport kommen, das er als Sport-Therapeut so macht.


Sein Lachen ist immer schon lange zu hören, bevor man ihn sehen kann. Und man hört das Lachen nicht nur, sondern man spürt es auch. Ganz leicht auf der Haut und ganz leicht auf den Lippen.


Es gab über die letzten Wochen hinweg viele Gelegenheit wo wir uns gesehen haben. Dabei waren immer viele Leute um mich herum. Meistens in der Raucherecke, wo ich als Nichtraucher stand um den neusten Klatch und Tratsch zu hören.



Egal wann. Egal wieviele. Egal wer da noch stand. Sobald Jerry mich sieht, nimmt er den kürzesten Weg direkt auf mich zu. Spricht auf diesem Weg mit niemanden. Schaut mit direkt in die Augen. Lächelt sein schönstes Lächeln.


Egal ob von 1 Meter Entfernung oder von 100. Und sobald er bei mir ist, legt er seine Hand fast auf mein Gesicht. Kurz vor meiner linke Wange und gibt mir mit seinem Augen zu verstehen was ich zu tun habe.


Ich folge der Bitte seiner Hand und lasse meine Wange und damit meinen Kopf in seine Hand fallen. Ich stehe aufrecht und entspannt und lehne meine ganze Seele in seine Hand.




Und ich höre es. Diesen einen Ton. Diesen Ton der Harmonie. Diesen Ton der Zeit und Raum ersetzt. Diesen Ton der Verletzungen heilt und Sehnsüchte erfüllt. Diesen Ton der die Sucht nach Antworten stillt.


Den dieser Ton ist das Schweigen DER WILDEN 16!


Sie verstummen in kollektiver Zufriedenheit des Moments. Genießen das es keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt für diesen einen Moment. Keine Erwartungen, die einen quälen. Keine Zweifel, die an einem zäheren. Keine Pläne, die einen versklaven.


In dem Moment wo ich mein Gesicht in seine Hand fallen lasse, ist alles warm und leicht und vollständig. Bin ich warm, leicht und vollständig.


Jerry ist ein Dschinn und lebt in der Zeit und dem Raum, die im beliebt.


Und zur einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort war er einmal Sklave am Hofe des persischen Sultans Schahryar. Als schwarzer Sklave hat er dort mit der Frau des Sultans geschlafen  (Siehe „1001 Tag" und "Trunken in Nüchternheit")



Als Dschinn bringt er jedem, der ihn ruft und aus der Flasche lässt, die eine Wahrheit, die Derjenige der ihn befreit, braucht um zu persönlich wachsen zu können.


Und jetzt ist er hier. Hier in Hürth bei mir. Und er ist heute mein Dschinn. Als er der Dschinn des Sultans war, hat er mit seiner Frau geschlafen, um dem Sultan den Weg zurück zur Liebe zu ermöglichen.


Für mich bringt er den den Ton der Harmonie. Indem er Harmonie in meine WILDEN 16 bringt. Indem er Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bringt für alle diese Wilden 16.


Aber wer sind den diese Wilden?


Wir alle haben Innere Anteile, Stimmen, Perspektiven usw. Zusammen machen sie unsere Persönlichkeit aus. Mal können wir im Aussen mehr bestimmte Anteile sehn. Mal bekommen wir im Aussen bestimmt Anteile nie zu sehen. Manche bekämpfen sich unter einander. 

 

Ich habe mir 16 davon visualisiert und beschrieben.


Zusammen sind sie so was wie mein Innerer Chor. Alle haben eine Aufgabe und Funktion. Nur zusammen schaffen sie ein Lied. Nur zusammen kann Harmonie nach innen entstehen. Und ich im Aussen authentisch auftreten.


Ich will nicht alle der 16 hier an den Pranger stellen bzw. ins Spotlight ziehen. Aber einige wären es sicherlich wert vorgestellt zu werden.




Da gibt es welche die sind extrem unangenehm im Umgang, so wie mein „Innere Preusse“ oder "Richter Unerbittlich". Die halten aber den Laden am laufen.

 

Da gibt es auch richtig lustige Innere Anteile, wie den „Rheinländer“ und „The Storyteller“.


Auf der Arbeit zeigen sich wieder andere Anteile. Aber richtig spannend und interessantsind die Anteile die sich gar nicht zeigen. Wie zum Beispiel der „Lonesome boy“ oder auch der „inneren Zweifler“. 


All diese Anteile haben Bedürfnisse. Beziehungsweise stellen Teile meiner Bedürfnisse da. Und die können sich durchaus widersprechen oder sogar bekriegen. 



Fast alle machen fürchterlich viel Krach in mir. Aber das ist mir viel lieber, als die die sich still verstecken oder von mir versteckt wurden. Weil die sorgen richtig für Ärger. 


Dschinn oder besser gesagt Jerry, hilft mir bei diesem Krach und Ärger, mit dem Ton der Harmonie. Er stellt ihn nicht her oder bringt ihn mit, sondern er sorgt dafür,das ich ihn nicht verhindere.


Er hilf dem „lonesome Boy“. So das er aus dem Keller und seinem Versteck in die Freiheit kommen kann und in Gleichheit und Brüderlichkeit mit den anderen Inneren Anteilen leben kann.




Das ist der Moment wo ich meine Kopf aus der Hand von Jerry nehme und ihn küsse. Als er meinen Kuss erwidert, ziehe ich langsam sein blau, weiss und rotes Polo aus. Und geniesse den Ton der Harmonie. Die Stille meines Inneren Chors.  Er nimmt meine Hand und lässt sie nie mehr los.







Teil 1 : 1001 Tag
Teil 2 : Tunken an Nüchternheit