Es ist diese eine Sekunde zu viel. Diese eine Sekunde teilt
die Schwulen von den Heten. Den Kumpel von dem Lover. Die Normalität von der
Versuchung.
So erkennen sich die Junx weltweit. Sie schauen einfach eine
Sekunde länger an, als sich sonst Männer gegenseitig anschauen.
Und diese Sekunde habe ich hier im Bus. Ich fahre von
Palermo nach Montella, dem Badeort und –strand von Palermo. In dieser sizilianischen
Hauptstadt ist Vergänglichkeit für mich anfassbar. Sie ist die Stadt wo
vergangener Glanz überschüttet ist mit greifbarer Patina. Vier Tage habe ich mir diese Stadt systematisch
erwandert und Kirchen, Palazzi und Stadtteile erkundet. Alleine und bewusst
einsam.
Aber jetzt will ich nicht mehr Vergangenes sehen, sondern
das Licht und das Meer. Daher sitze ich im Bus und bemerke wie wir die Stadt
hinter uns lassen und nur noch selten anhalten.
Als ich vom Fenster meinen Blick in den Bus lenke, setzt er
sich er gerade mir gegenüber hin. Und schaut mich an. Diese eine Sekunde zu
lang. Ganz Italiener ist er von der Sonne braun und sein Haar an den Beinen ist
blond wie Gold. Sein Gesicht läuft spitz zum Kinn hin zu. Seine kurze Sporthose
konnte ich gerade noch von hinten sehen
als er sich hinsetzt. Und was ich sehe ist filigran, wie der Rest seines
drahtigen Körpers.
Das Spiel der Augen ist im vollen Gange. Und weder konnte
ich seine dunklen braunen Augen stand halten, noch konnte er meinen Blick
erwidern.
Unsere Körper machten das, was das NLP pacen nennt. Wir
spiegelten unsere Bewegungen und Körperpositionen. Und dabei hatten wir
unsere Körper maximal zueinander
geöffnet. Dieses Spiel geht gefühlte Minuten, Stunden, eine ganze Ewigkeit.
Plötzlich steht er auf und verlässt den Bus. Und während der
Bus anfährt geht er in entgegengesetzter Richtung auf den Bürgersteig. Ohne
sich umzudrehen. Noch nicht mal für eine Bruchteil einer Sekunde.
Was fasziniert mich an diesen Mann so sehr? Warum bin ich so
gefangen von seinem Blick?
Von der üblichen Liste der Verdächtige konnte ich ihn
schnell streichen.
Körper, Gesicht, Lächeln, Lippen; Alles war toll und so
frisch. Aber halt auch nicht so anders oder besser, als bei den anderen Männern
auf meiner Liste.
Sein Humor, seine Eloquenz oder seine Charme konnte ich,
unsere stillen Begegnung geschuldet, nicht kennen lernen.
Es war wohl etwas in mir und nicht etwas an ihm, was mich
elektrisiert.
Ich lese hier viel zu der Oper „Parsifal“ von Richard
Wagner. Er hatte viel zu dieser Oper hier in Palermo erarbeitet. Und um es mal
mit dieser Oper zu überhöhen, so liebte ich den erhofften Retter.
„Durch Mitleid wissend, der reine Tor; harre sein, den ich
erkor.“
Und dieser Tor, mein Tor aus dem Bus, der ist ein Tor, weil
er ohne Erfahrung ist. Und deswegen ohne Verletzung. Und wissend nicht durch
Wissen, sondern durch das Mitleid für mich. Der von dieser Verletzung schon zu
viel Weiß und zu viel hat.
Ich sehne mich nach diesem Mann, weil ich ein solcher Tor
sein will. Ich sehne mich nach ihm, weil ich auch mal so war. Aber nicht mehr sein
kann.
Ich sehe dem Mann aus dem Bus nach, wie er über den
Bürgersteig weg geht, ohne sich umzudrehen. Und ich sehe mich dort gehen, denn
der Junge ist 15 Jahre alt.
Und als der Junge aus der Sicht ist, bin ich nicht mehr Jung,
noch Sohn. Sondern nur noch Mann.
Und wie der König Amfortas, der König des Grals in der Oper
Parsifal, habe ich „vergessen“ die Frage zu stellen, die alle Wunden in mir
heilt.
(In Erinnerung an
meiner Mutter. 24.09.2011)