10.01.2004

In-Between Mood. (Reisebeicht aus Berlin Jan'04)

Es war nicht mehr 2003 und noch nicht 2004. Die Berliner U-Bahnstation Weinmeisterstraße war leer. Menschen und Seelenleer. Ich war der einzige dort. Und die dicken Wände und vielen Steine der Station schützen mich vor den Enttäuschungen des vergangen Jahres und den Hoffnung für das Neue. Und diese Steine schützen mich auch vor den Menschen auf der Oberfläche. Denn sie hatten beschlossen, das sie das, was sie ein Jahr lang in Bagdad gesehen hatten, jetzt auch mal in Berlin nachspielen wollten. Sie schossen: auf Autos, auf Menschen, auf Häuser, ja sogar auf den Himmel.

Und nach meiner Flucht in die Station, stürzte ich auf die Bank und setzte mich. Ich schaute auf die Uhr. Es war Mitternacht. Und ich liebte die Steine noch mehr. Weil ich die Menschen auf der Oberfläche jetzt so ekelhaft gespielt romantisch und verliebt empfand. So saß ich in dieser U-Bahnstation wie Neo in Matrix III. Nicht in der Matrix; nicht in der Realität. Irgendwo dazwischen. In-Between. Und so war auch meine Stimmung. A in-between Mood.

Und ich liebte diese U-Bahnstation, denn die größte aller meine Lieben war bei mir: meine Musik.

Ein Sylvester 2004 wie es ehrlicher nicht sein könnte.

04.01.2004

Bare 2004. (Reisebeicht aus Berlin Jan '04)


Bare ist laut dem Ponds, ein englisches Wort für:

nackt, bloß, kahl, ohne, entblößt, ärmlich, ungeschützt.

Und um das gleich am Anfang klar zu stellen: es geht hier nicht um die sensationelle neue CD von Annie Lennox. Nein, in 2004 geht es um „Bare“, als schwuler Slang für Sex ohne Kondom, um Abspritzen in den Mund. Also, um Unsafe-Sex.

Sind die Heten noch am lesen?

Seit `83 geht Ficken ohne Kondom nicht mehr. Zu mindestens nicht ohne schlechtes Gewissen. Und seit `84 geben sie uns rationale Argumente, warum Safer Sex der bessere Weg ist.

Der moderne Mensch als Home Sapiens ist zirka vor 100.000 zur Welt gekommen. Und die Lust war IMMER der Sieger. Kein Krieg, keine Religion, keine Pest, keine Syphilis, konnte sie besiegen.

Die Emotionen haben immer gewonnen. Die neue Hirnforschung weiß auch warum. Denn wir Menschen denken auf zwei Wegen. Einen schnellen und ungenauen. Und einem langsamen exakten Weg.

Der erste Weg wird über dem Mandelkern im Gehirn gesteuert. Er kennt nur Flucht oder Kampf. Freude oder Angst. Und der zweite Weg, geht über die Präfrontal-Lappen zum Neokortex. Hier können logische und mathematische Zusammenhänge gedacht werden. Den ersten Weg gab es von Anfang an. Der zweite Weg gibt es erst ein Zehntel der Menschheitsgeschichte.

Das Neue ist, das wir jetzt wissen, das der Mandelkern IMMER die Hoheit über den Neokortex hat (das, was wir umgangssprachlich als Großhirn bezeichnen). Der Lappen ist quasi ein Lagerwart vom „Speicherplatz“ Neokortex. Dessen Chef ist der Mandelkern. Da der Kern alle Wahrnehmungen und Gedanken mit Emotionen belegt, haben Emotionen IMMER die Oberhand.

Sex als Lust, wird heute erlebt - nicht nur von der schwulen Gesellschaft – als Sehnsucht, als Verlangen nach fehlendem Abenteuer, als Überwinden von Langweile, als Selbstbestätigung oder einfach nur als ein hautstraffendes Mittel. Also, sozial-psychisch und nicht biologisch.

Und wenn es nun mal nichts stärkeres als Gefühle gibt. Wenn Geilheit und Liebe doch immer gewinnen. Und die meisten Positiven und Negativen heute meinen zu wissen, das eine HIV-Therapie nicht mehr bedarf, als die für einen Diabetiker.

Warum sollten wir dann noch Safer Sex machen?

Jeder Mann weiß, auf die ein oder andere Art, dass eine Penetration ohne Kondom immer gefühlsechter ist. Egal ob vom Kopf her oder tatsächlich am Schwanz gefühlt. Seit 20 Jahren also rauben wir uns das existentiellste aller Gefühle, die Lust.

Überrascht es da, das in dem Moment wo in der HIV-Medikation Land in Sicht scheint, die Gegenbewegung zu Safer Sex Fahrt aufnimmt?

Haben wir Verständnis, das in der Geilheit der Liebe, in der Hitze des gemeinsamen Zweikampfs, uns das rationale Argument: „Kreuzresistenz kann tödlich sein“, nicht präsent ist? Beim normal guten Sex verlieren wir ja bereits 85 % unseres Geruchssinns. Da soll die Ratio noch voll intakt sein?

Warum ist die Aufklärungskampagne nach 2 Jahrzehnten nahezu stumpf?

Ja, wir haben in Deutschland angeblich stabile Neuinfektionszahlen. Trotzdem ist die Neuinfektion überproportional bei den Youngstern. Sie haben Karposi nie gesehen. Waren nie bei Freunden im Krankenhaus. Haben bei Ihren Geburtstagsfeiern immer die Sicherheit, das dort mehr Menschen kommen, also noch vor 2 Jahren.

HIV-Kampagnen haben mit rationalen Argumenten so lange funktioniert, wie es das stärkste aller Emotionen gab: die Todesfurcht. Ob wir wollen oder nicht! Ob es wahr ist oder nicht!

Diese Todesfurcht vor AIDS gibt es in Europa im Jahr 2004 nicht mehr.

Deswegen versagen die Kampagnen. Deswegen ist mir in 2003 in Berlin, in Barcelona, in Wien, in Paris und in Amsterdam ununterbrochen Unsafe-Sex entgegengeschlagen. Es ist Standard geworden und nicht mehr Ausnahme.

Die Youngsters haben die Bilder nicht mehr als Emotion. Als Angst-Katalysator. Die Older-ones haben die Erfahrung gemacht, das bei einmaligen Unsafe-Sex nicht der Belzebub durch die Tür kommt. Kein Gauweiler einen ins Lager steckt. Das kein Reichsgerichts-Freisler einen aburteilt.

Und am überraschensten: es macht spaß.

Deswegen müssen alle Kampagnen weg von Argumenten und hinzu Emotionen. Wir müssen fühlen und nicht verstehen, was wir durch Unsafe-Sex verlieren.

Wir müssen es lieben einen Urlaub zu machen. Sagen wir in Berlin. Begeistert sein von Kunst und Freunden.

Spielerisch entdecken, das die Sammlung Berggruen - eine private Gemäldesammlung der klassischen Modernen - einen Wintertag erhellen kann. Herr Berggruen ist von den Nazis nach Frankreich geflüchtet und nach dem Krieg zurück gekommen. Der Schwerpunkt seiner Sammlung in Charlottenburg sind Picasso und Henry Matisse. Aber im dritten Stock des rechten Palais ist auch Paul Klee eine tolle Entdeckung. Wenn mann noch die Kraft hat, dort oben hinzugelangen.

Vielleicht will mann auch - Nebenwirkungsbedingt – nicht auf eine hervorragende Ausstellung im Martin-Grupius-Bau verzichten: „August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts.“ Einer DER Portrait-Künstler der Fotographie. Ein Mensch der mit nur vier Jahren Schulbildung, Menschen, soziale Schichten und Landschaften emotional so verstanden hat, das noch 100 Jahre später die Kraft der Bilder uns packt.

Aber hat mann noch genug Kraft als Positiver den ganzen ehemaligen Kunstgewerbebau zu besichtigen? Ist mann noch in der Lage zu erfassen, das Sander die Fotografie von „Schön-Malerei“, hin zu Kunst des Verewigen des Charakteristischen des Menschen, geändert hat?

Hat mann nach einer Stunde Ausstellung noch genug Energie? Um zum Beispiel denn Zusammenhang zu verstehen, das die Kunst von Sander nicht nur darf beruht, die Menschen und ihre Gesichter des frühen 20. Jahrhunderts zu portraitieren. Sondern auch darin, das er bei sonst rein statischen Portraits, durch die geschickte Inzinierung der Hände, die Persönlichkeiten festhalten kann.

Durch Störung des Gleichgewichtes aufgrund von Medikamenten, muss mann auch schon mal zu hause beleiben Und kann nicht die Fülle des Berliner Nachlebens ausschöpfen. Kann sich nicht fallen lassen in eine Stadt. Nicht den schwulen Reichtum Berlins auskosten, indem mann in kürzester Zeit von Schwuppen-Bar, zu Lederschuppen und High-Energy-Party wechselt.

Mann ist sehr einsam, wenn mann die Einnahme von Tabletten vergessen hat und die harten Bedingungen eines Medikamenten-Regimes einen nach Hause zwingen. Und das gerade in dem Moment, wo mann sich jung gefüllt hat, attraktiv und begehrt.

Das sind Emotionen.

Das verlieren wir,

wenn Bare gewinnt.

Berlin, 04.01.2004