24.05.2020

Trunken an Nüchternheit

In „Gesichten aus 1001 Nacht“ kann man lesen, das es zwei Schwestern gab. Sie sind für immer verbunden. Für immer aufeinander angewiesen. 

Beide wollen den persischen Sultan Schahryar zur Besinnung bringen. Wollen ihn durch das Wort vom Mord abbringen. 

Aber im ganzen Königreich gibt es kaum noch Jungfrauen, geschweige denn Frauen, die willens währen den Sultan für eine Nacht zu heiraten. 

Der Sultan ist ein „Gefangener“ seiner Eifersucht und noch schlimmer seines Schmerzes über den Verlust des Glaubens an die Liebe. 

Aber wie kann da das WORT den Sultan befreien? 
Wie kann die LIEBE den Sultan wieder zum Menschen machen?

Erinnern wir uns wie es dazu gekommen ist und erinnern uns zuerst an die eine der beide Schwestern. 



„Scheherazade ist eine der Hauptfiguren aus der Rahmenhandlung der persischen Geschichten von Tausendundeiner Nacht. Sie ist die Tochter des Wesirs des persischen Sultans Schahryar, der von seiner Frau mit einem schwarzen Sklaven betrogen wurde. Davon überzeugt, dass es keine treue Frau auf Erden gibt, fasst Schahryâr den Entschluss, sich nie wieder von einer Frau betrügen zu lassen. Deshalb heiratet er jeden Tag eine neue Frau, die er am nächsten Morgen töten lässt.“

Um diesem Treiben ein Ende zu bereiten, lässt Scheherazade sich selbst von ihrem Vater dem Sultan zur Frau geben. In der Nacht beginnt sie, dem Sultan eine Geschichte zu erzählen, deren Handlung am nächsten Morgen unterbrochen wird. Neugierig auf das Ende der Geschichte, lässt Sultan Schahryâr sie am Leben.“ 

Netflix & Co hat ja schon viel Beischlaf verhindert. Aber 1001 Nächte ohne Sex? Scheherazade muss wirklich richtig gut sein. 

Wer für knapp drei Jahre so wirksame Cliffhänger produzieren kann und als Bauchtänzerin sonst nur ihren Körper nutzt und deswegen so viele Nächte überleben kann, muss die Kunst des Erzählens im Blut haben.  

So wie mein Vater. Er ist der geborene Geschichtenerzähler. Ich habe gesehen wie er ganze Bierzelte zum Lachen gebracht hat. Er wahr der einzige der kein Alkohol getrunken hat. Aber mein Gott war er berauscht. Von Aufmerksamkeit. Aber noch mehr von Gemeinschaft. Humor und Gesichten waren sein Weg die Welt zu sich einzuladen. Und die Welt ist gerne gekommen. 

Ich bin wie mein Vater. 

Kein Mann schreibt diesen Satz gerne. Kein Mann kann sich das überhaupt nur vorstellen. 

Ich will es mir gar nicht vorstellen. Nicht wegen den Bierzelten. Die fülle ich auch. Die unterhalte ich auch. Bei meinem Vater und mir ist es wie bei jedem leidenschaftlichen Komödianten: uns ist kein Publikum zu klein. Und jeder Zuschauer gleich wichtig. 

Die erfahrenden Damen von Kamps. Die reiferen Damen bei Rewe an der Kasse. Die überforderten Damen von der Post. 

Gerade für sie gebe ich mein Bestes. Gerade sie haben es verdient ein wenig zu Lachen. Und es macht mich froh, wenn ich zur nächsten Performance weiter gehe, weil ich sie ein wenig glücklicher und wacher gemacht habe. 

Aber ich habe die Wörter „Komödiant“ und „Zuschauer“ benutzt. Und das aus gutem Grund. 

Weil der Komödiant nach jedem und damit auch vor jedem Auftritt, seine ganz eigene Tragödie hat. Seine ganz eigene Einsamkeit mit seinen Gefühlen. Und damit die Sehnsucht nach Zweisamkeit. 

Und wenn diese Sehnsucht besonders gross ist, weil die Gefühle so stark sind, ist man als Komödiant nicht weit entfernt der „traurige Clown“ zu sein. 

Und deswegen will ich nicht so sein wie mein Vater. Denn wie jedes Kind weiss ich um den Vater, wie er ist, wenn das Publikum nicht da ist. Wenn der Vorhang geschlossen ist. Wenn das Licht auf der Bühne aus ist. 

Und diese Traurigkeit will keiner. Diese Einsamkeit mit den eigenen Gefühlen ist oft grausam. 

Und das Wort „Zuschauer“ beschreibt so genau und präzise was sowohl im Bierzelt, wie im Rewe passiert. Was so meinem Vater passiert ist. Und auch mir passiert. 

Ich lasse andere zuschauen. Zu hören. Oder Stichwortgeber sein. Anspiel-Partner maximal. 

Aber das ist nicht Zweisamkeit. Noch nicht mal Einsamkeit. Es ist nichts anderes als Ablenkung. Noch nicht mal eine Form von Kontakt. 

Und das verbindet meinen Vater und Scheherazade. Um jede Nacht zu überleben, erzählen beide Geschichten. Um nicht gefickt zu werden vom Leben, fesseln sie einen mit Geschichten.  

Aber so wenig die Welt meinen Vater kennt ohne Publikum. So wenig weiss die Welt, das Scheherazade eine Schwester hatte: Dinharazade. 


Während die eine Schwester Scheherazade, Bautänzerin im Harem des Sultans war. War die andere Schwester Dinharazade die Frau, die um all diese Geschichten aus 1001 Nacht wusste. Sie erzählte am Tag ihrer Schwester die Geschichten, die der Schwester in der Nacht das Leben retteten. 

Sie war der ‚Brain‘; sie war die Weisheit; sie war die Philosophie, die Geschichte und das Wissen. Und sie wusste das dies nur eine Seite der Medaille ist. Wogegen Scheherazade die Kunst der Präsentation, die Liebe zur Verführung und die Hingabe an den Moment ist. Dies ist die andere Seite. 

Und diese beiden Schwestern ergänzen und schätzen und lieben sich. Brauchen einander. Überleben nur zusammen. 

Aber ganz offensichtlich ist weder mein Vater noch ich, eine Bauchtänzerin des Sultans oder eine Tochter des Wesirs.  

Aber scheinbar teilen er und ich die selben „Schwestern“. 

Den wir beide wissen sehr genau wie es geht eine Scheherazade zu sein. Und Dinharazade ist unser eigen Fleisch und BlutDie Schwester, die uns am nächsten ist. 

Aber es gibt einen Bruder den wir nicht teilen: ساشا.

Er ist NUR mein „Bruder“. Aber nicht der „Bruder“ meines Vaters



Um mal einen Tarantino Film zu zitieren: “you had my Curiosity, now you have my attention!”

Scheherazade und Dinharazade haben die Neugier des Sultans geweckt. Aber ساشا hat die Aufmerksamkeit des Sultans gewonnen. 

Attraktion (von frz. attraction = Anziehung, lat. ad trahere = zu sich hin ziehen) steht für: Anziehungskraft. Für Anziehung sind die beiden Schwestern zuständig.

Und um es auf mich zu beziehen: Scheherazade und Dinharazade sind der Grund warum die Sultans, Könige und Prinzen zu mir kommen. Aber ساشا ist der Grund warum sie bleiben

Scheherazade tanz. Dinharazade erzählt. Und ساشا macht. 

ساسچا hat Macht, weil er macht was nötig ist. Weil er vorangeht und führt ohne zu dominieren.

Er ist einfach im hier und jetzt. Braucht nicht zu scheinen. Er ist einfach er selber. Und macht. Was zu tun ist. Was richtig ist.

Mann könnte ihn beschuldigen „Trunken an Nüchternheit“ zu sein. Das klingt gefährlich langweilig und unattraktiv. 

Aber Doctor Who bringt es auf den Punkt. Und genau so ist mein „Bruder“. Den Bruder den mein Vater nicht hat. 

“Winning? Is that what you think it’s about? I’m not trying to win. I’m not doing this because I want to beat someone, or because I hate someone, or because I want to blame someone. It’s not because it’s fun. God knows it’s not because it’s easy. It’s not even because it works because it hardly ever does.. I DO WHAT I DO BECAUSE IT’S RIGHT! Because it’s decent! And above all, it’s kind! It’s just that.. Just kind.... Hey, you know, maybe there’s no point to any of this at all. But it’s the best I can do. So I’m going to do it. And I will stand here doing it until it kills me. And you’re going to die too! Some day.. And how will that be? Have you thought about it? What would you die for? Who I am is where I stand.. Where I stand is where I fall. Stand with me....
Why not, just at the end, just be kind?” — The Doctor 




Am Anfang des Textes habe ich gefragt:

„Aber wie kann da das WORT den Sultan befreien? 
Wie kann die LIEBE den Sultan wieder zum Menschen machen?“

Und die Antwort ist indem die beiden Schwestern zusammen mit ihrem Bruder ساشا den Sultan betören. 

Indem der Tanz, das Wort und die Tat den Sultan wieder für die Liebe gewinnen und er wieder vertrauen lernt. 

Und deswegen hat der Sultan nach 1001 Nächten auch die Scheherazade am leben gelassen und geheiratet. Und in meinem Fall ich nicht die Angst haben muss, wie mein Vater zu werden. 

Jetzt wo „die Liebe gewonnen hat“ gehe ich mal schauen, wo der schwarze Sklave geblieben ist, der die Frau des Sultans gefickt hat. Der ist ja mein heimlicher Held in dieser Gesichte. Der muss natürlich dringend belohnt werden. 

Er heisst Jerry und kommt bald nach Hürth. Als freier Mann. Und als solcher wird er mich wohl bald treffen um seine Belohnung einzufordern. 

Und ich stelle mich dann vor, mit meinem Namen Sascha. Oder auf Persich/Fārsi ساشا.

To be continued. 


Teil 1 = 1001 Tag
Teil 3 = Die Wilden 16.