05.09.2003

Allein. (1. Reisebericht aus Amstderdam)

Allein.

Ich sitze im Zug. Zwischen Köln und Amsterdam. Ein Großraumabteil voller Menschen aus einem B-Movie, der schlechtesten Art.

Laut, geschwätzig, hässlich und am schlimmsten: ohne Geschmack. Ich werde nie mehr über die Mascara-Tucken aus Cölle schimpfen. Die gemeine Haus-Hete an für sich, kann schon hässlich sein.

Laut ist ihr unnötiges Geschwätz über Hochzeitsgeschenke oder Bundeswehrerlebnisse. Da ist mir der laute Türke schon lieber, der seit Düsseldorf seine Worte auf sein Handy drischt. Wir sind in Utrecht! Und seit 1 ½ Stunden hat sein Gesprächspartner nicht eine Chance, ein Wort zu sagen. Gut das ich kein Türkisch verstehe.

In solchen Momenten liebe ich es meinen MP3-Luxus auf volle Lautstärke auszuleben.

Uhiiiii. Da sitzen diagonal rechts von mir zwei ... Frauen. Sie sind eine Mischung aus Baccara und „Deutschland-sucht -den-Superstar-Juillet-und-Gracia“ (Erster Runde !). Nur sie sind doppelt so alt und doppelt so faltig. Von Styling und Make-up zu viel und vom Lady sein, zu wenig. Sie sehen aus, wie eine „Saure-Regen-Kiefer“ die mit Weihnachtsschmuck behangen ist. Ihr Versuch Aufmerksamkeit zu erzielen unterscheidet nicht nach Bewunderung oder Verdammung.

Als Schwuler ist ihr Balz-Ritual nur lächerlich für mich. Kein Wunder das wir Schwulen oft als lächerlich bei den Heten gelten.

Vielleicht sollten sie wie im Brecht-Theater anstatt eine s Bühnekostüms nur ein Schild um den Hals tragen: Fick mich! Dann könnten sie sich auch die teueren und hässlichen Klamotten sparen und meine Netzhaut schonen. Wahrscheinlich ist das auch keine schlechte Idee für die Mascara-Tucken.

Aber da sitze ich nun mal im Zug. Wie immer lesend: UN-Report, Psychologie Heute, T-Systems Intranet Seiten und eine Fotoband.

Es gibt kein Platz, keine Zeit, kein Raum, wo ich mehr bei mir bin, als beim Reisen. Allein und mit meinen Gedanken in einsamer Geselligkeit.

Geht der Zug 1, 2 oder 3 Stunden. Egal. Auf solchen Reisen bin ich im Flow. Ich lese, denke. Jenseits meins Körpers und seiner Zeichen. Flow ist ein Zustand bei dem und durch dem man Raum, Zeit, seinen Körper und sich selbst vergisst.

Bei meiner Dreifaltigkeit des Online-Zeitalters: Chat, Era, Job; bin ich aufs peinlichste darauf bedacht, nicht alleine zu sein. Ich müsste mich ja mit mir selbst beschäftigen. Ich verweigere die Arbeit der Selbsterkenntnis und meide die Konfrontation mit meinen Gefühlen.

Lieber fliehe ich in die Geschäftigkeit, bin rastlos auf der Suche nach neunen Reizen. Selbst wenn es nur ein Anästhetikum ist, wie Fernsehen.

Und Selbsterkenntnis wird mir auch nur wirklich bewusst, wenn ich sie ausspreche. Also, mit jemandem bin.

Ich scheue das Alleinsein und sehne mich gleichzeitig danach. Meine Sucht nach Kommunikation und Erlebnis ist ungebrochen. Meine Dummheit meinen Körper dabei hinten anzustellen ist gleich geblieben. Sei es ein City-Trip, sein es CSD, sei es ein einfaches Wochenende. Tag und Nacht haben busy zu sein. Party, Kultur und Gespräch. Sex statt Abenteuer. Bis ich nahezu zusammenbreche und endlich die Ruhe zulasse.

Mit 36 Jahren gestehe ich mir doch ein, das die Zeit, wo ich allein sein will und auch allein sein muss, immer größer wird. Die Zeit für Battery-Recharge. Nicht zu verwechseln mit der Zeit in der man einsam ist. Nicht weil körperlicher Verfall das bedingt. Wie das WWW steigt die Anzahl der Verlinkungen in meinem Be- und Unterbewusstsein exponentiell an. Braucht mein Prozessor mehr und mehr Rechenzeit, um die ganze Komplexität zu erfassen.

Das ich in dem Großraumwagen der DB überhaupt was wahrnehme ist verwunderlich. Kein einziges mal schaue ich aus dem Fenster. Sehe keine Landschaft der Stadt. Suche mir eine Reihe ohne Nachbar. Ich bin ja immerhin Bahn

Comfort Kunde. Also, meine Kilometer in der Bahn sind größer als die Anzahl von Milchkaffees im Era. Kaum betrete ich einen Großraumwagen, fange ich an zu lesen, zu lesen und lese. Stundenlang. Nehme nichts wahr. Konzentriere mich auf den Stapel den ich mir vorgenommen habe.

Diese Konzentration ist so wohltuend. Sie lässt keinen Zweifel, keine Langweile, keine Kritik und keine Fehler zu. Werder von andern, noch von mir selbst. Ein glücklicher Zustand.

Eine Sucht zwingt einen zu etwas hin. Meine Lebenssucht bringt mich von etwas weg. Weg von der Beschäftigung mit mir selbst. In diesem Zug zwischen Köln und Amsterdam bekenne ich mir dazu, dass all meine Reisen bei den ich allein bin, Flow sind. Und wie ein bei allem nutze ich dieses Flow um den Turbo einzuschalten, bei der Arbeit mit mir selbst.

Flow ist purer Alpha-Zustand des Gehirns. Deswegen sind die Reisen im Job und in der Freizeit für mich eine große Gnade. Voller Aufmerksamkeit. Voller Assoziationen. Voller Erkenntnis.

Was mache ich falsch? Was soll ich machen, damit ich dies auch zu Hause habe?

Vielleicht sollte ich den Türken, Juillet und Gracia fragen, ob sie mit mir nach Köln zurück kommen?

Köln, Amsterdam 5.09.03

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