12.05.2007

Reich und Schön. (6. Reisebericht aus Marseille)

Ich bin bei den Toten. Sie sind wunderschön. Es ist wunderschön hier. Ich will kaum atmen, um die Stille nicht zu stören und um auch nichts von der Stille an diesem Ort zu verpassen. Knapp 100 Meter oberhalb von Nizza gehe ich staunend über den Friedhof auf dem Schlossberg. Hier trotzte lange Jahrhunderte lang zwar ein Schloss und eine Zitterdelle allen Kriegswindungen, weil der Berg und die Burg drauf, uneinnehmbar war. Aber es sind noch nicht mal mehr die Grundmauern geblieben. Der Berg ragt sprichwörtlich bis zum Meer und teilt dadurch die „Promenade für Touristen“ und den „neuen Hafen für die schwimmenden Touristenburgen“. Und aus den alten Zeiten, sind hier oben nur der Friedhof und ein Park geblieben. Der Hof des Friedens ist von einer einfachen und hässlichen Mauer umrundet, die auch den katholischen vom jüdischen Teil trennt.

Erschlagen und erfürchtisch setze ich jeden Schritt bedächtig und leise auf die kleinen weißen Kieselsteine die den Weg ausmachen. Dieser Ton ist das einzige Geräusch. Sowohl die Stadt und ihr lautes Treiben, wie das Meer und selbst der Mistral, sind hier oben, weit weg und stumm. Oder besser gesagt: nur als weit entfernte Kulisse zu hören.

Beide Teile des Friedhofs wetteifern um die schönsten und skurrilsten Gräber. Hier oben auf dem Berg der Stille, bringen große Zypressen und das dominierende Weiß und Schwarz ein Klarheit und Ordnung ist das Sehen, die sich gleich auf mich überträgt. Und das, obwohl alle Eitelkeiten und narzisstischen Anteile hier in der Gräbern ausgelebt werden. Zu mindestens auf dem katholischen Teil.

In Städten gibt es ja zwei Arten von Reichtum, den es auf dem Land nicht gibt. Platz und Ruhe. Beides wird umso teuerer, je mehr man in das Zentrum einer Stadt kommt. Je mehr Fläche und je mehr Raum man hat, desto vermögender ist man. Ist dieser Raum noch an einer Stelle der Ruhe gelegen, ist man quasi schon am teuersten Platz der Stadt.


Der Friedhof auf dem Schlossberg „La Colline du Chateau“ macht dies besonders deutlich. Durch seine Lage ist er gleichzeitig begrenzt und beschenkt. Deswegen wird jeder Meter Platz optimal genutzt und bebaut. Die Wege sind auf ein Minimum geschrumpft. Standesbewusstsein wird hier entweder durch das Ausmaß der Grundfläche für das Grab oder durch die besondere Gestaltung der Grabüberbauten gezeigt. Manchmal kommt auch beides zusammen.

Von mancher Stelle des Hügels sehen die Gräber und ihr Granit aus wie Wellen aus Stein. Und aus den Wellen brechen sich kleine Meerjungfrauen ihren Weg aus dem Ozean der Toten, verkleidet als Maria oder das Jesuskind,

Und bei dem Erleben dieser Ruhe und Abgeschiedenheit wird mir klar, wie ich den Unterschied zwischen Marseille und Nizza sehe. Hier in Nizza gibt es viel Schönheit und Elleganz. Vergangene und gerade noch seiende. In Marseille ist es schmutzig und ungeordnet, ja wild.

Am Anfang habe ich mich ja sogar geweigert in Nizza die schönen Bauten und Plätze in den vielen italienischen Baustilen anzusehen. Verneinte die Kraft der Farben, die einen Yves Klein, als Sohn der Stadt, zu seinem berühmten Blau geführt hat. Widersprach dem Zauber dem des Lichts, dem Chagall und Matisse hier erlegen waren.

War es Stephan oder Peer? Ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall ging es irgendwann mal darum zu entscheiden, ob ein junger Mann mein Interessen wecken würde. Und sein Kommentar war: „Nein, da ist zu wenig Straßenköter drin.“

Und ich denke das stimmt. Am letzten Tag meiner Reise kann ich sagen: Ja, ich will Straßenköter! Gibt mir die Bastarde dieser Welt. Lieber eine dreckige und chaotische Stadt voller Sehnsucht und Hoffnung als, ein selbstgefälliges Nizza. Lieber Schlussverkauf, als Kollektions-Start-Verkauf. Lieber krumm, als gerade. Lieber Charakter, als langweilige, weil perfekte Schönheit. Und je mehr ich drüber nachdenke gilt dieser Geschmack für Städte, auch für meinen Geschmack an Männern.

Aber feiern wir doch einfach mal die Städte wie sie fallen. Nizza, eine Stadt die sich erst 1860 von Napoleon III. durch Versprechungen hat kaufen lassen, um dann bei einer Volksabstimmung sich Frankreich anzuschließen. Davor war es lange italienisch, beziehungsweise Savonyisch. Das sieht man an dem wilden Mix aus Renaissance und Turiner Barock in den führenden Stadtbauten. In der Altstadt sind auch viele Straßenschilder französisch und italienisch.

Napoleon III. hielt seine Versprechen und brachte viel Geld in die Stadt und begründete die Elleganz auf die sich Nizza heute beruft. Trotzdem ist der italienische Einschlag auch durch langjährige Verkrustungen mit der Mafia dokumentiert. Kein Wunder, die Stadt liegt ja geografisch auch in Ligurien. Ebenso hat sie auch eine lange Tradition, nahezu rechtsradikale Bürgermeister zu wählen, die auch fleißige Le Pen Unterstützer sind.

Lassen wir mal, die zwar praktische und schön lange Promenade am Strand bei Seite. Hier sind die berühmten Hotelbauten die Cary Grant so beflügelt haben kaum noch zu sehen. Und auch die zweite und dritte Häuserwelle sind gelinde gesagt: unspektakulär. Nur der Ring um den Schlosshügel, findet Gnade vor meinen strengen Augen.

Hier kann ich auch meiner Straßenköter-Vorliebe frönen. Hinter und neben den großen Hotels, Restaurants und Bars, sehe ich viele Kellner, Küchenjungen oder Verkäufer. Sie haben sich aus ihren Läden gestohlen und rauchen verlegen eine Pausenzigarette. Sie sind froh sich wenigstens kurz, nicht darum kümmern zu müssen freundlich zu sein, die Krawatte gerade zu rücken oder aufmerksam zu sein. Kleine Inseln der gestohlenen Zeit, entstehen so an Hinterausgängen, an Mülltonnen oder Seitenstraßen. Augen und Körper voller schlechtem Gewissen und trotzigem Verharren. Gesichter mit 5-Tage Bärten, voll mit dunkeln Haaren und Augen, die mich auf diesem Trip so unendlich angemacht haben. Laurent und ich hatten einen festen Ausdruck für diese Männer: „Dreeeecksauuu!!!“ Mit französischem Akzent und leichtem lispeln klingt das sehr lecker.

Gut, der Dreeeecksauuu-Koeffizent pro Minute, ist in Marseille um einiges höher als in Nizza. Da gibt es auch viel mehr, von diesen unverbogenen, unparfümierten und natürlichen Typen, als hier in Nizza. Hier sind die Junx mehr in Richtung der Kölner „geleckten Typen“ anzusiedeln. Aber bei genauem hinsehen, findet mann auch eine angenehme Mischung aus französischem und algerischem Aussehen.

Diesen Eindruck konnte ich in der Nacht im Traxx noch mal bestätigt finden. Das Traxx war ein stadtbekannte Laden, zu dem ausschließlich Herrn gingen, die andere Herren suchten, und keinen Umweg über lange Bar-Gespräche oder lange Disco-Nächte gehen wollten. Auch hier überraschte Südfrankreich mit hohem internationalem Standard in der Ausstattung und Funktionalität. Diesmal war aber auch das bewegliche Inventar von hoher Güte. Wenn es neben der Straßenköter-Vorliebe noch eine weitere Vorliebe gibt, dann sind es ja bei mir die Tänzer. Und so kam zusammen, was zusammen kommen musste. Tanzende Straßenköter, mit Cardinot-Fressen und hoher Beweglichkeit und der kleine Sascha, sorgten zusammen dafür, das die ein oder andere Cardinot-Phantasie, in die französischen Küstenwirklichkeit umgesetzt wurden.

(Liebe Hetero-Frauen, bitte wendet Euch vertrauensvoll an den nächstgelegen Homosexuellen, um Euch das nötige Wissen über den Großmeister des französischen Dokumentarfilms – Monsieur Cardinot – zu beschaffen.)

Bei meinem zweiten Ausflug durch die Altstadt erfreue ich mich an den kleinen und gehobenen Geschäften. Läden mit strengen Damen, die hinter alten Holztresen stehen und so strahlend weißen Dallmayer-Schürzen tragen, wie aus der gleichnamigen Werbung. In diesen Spezialitäten-Geschäften kann man dann sich quasi baden in Farben und Gerüchen. Läden nur mit einem Produktgruppe, wie zum Bespiel: Seife in den wildesten Farben und Formen. Läden nur mit Oliven, zum essen, als Öl, als Seife, als Butter, im Brot, im Käse, als Gesichtscreme, und und und. Läden mit Gewürzen und getrockneten Blumen aus der Provence. Teehäuser mit großen Teekannen aus Metall, das noch älter als manche Häuser hier sind. Weinhändler die Wein leben und nicht nur verkaufen.

Aber ich ließ all dies hinter mir, um meinen letzten Ausflug in diesem Trip zu machen. Um den Massen an Touristen zu entfliehen, entschloss ich mich auf den hintern Hügel von Nizza zu steigen, wo das Freiluft Museum „Musée d’Archéologie Ruines Romaines“ und das wegen Renovierung geschlossene Matisse Museum liegt. Hier ist der Stadtteil Cimiez.


Diesen Aufstieg von 1 ½ Stunde Wandern, wurde mir belohnt mit dem Eintauchen in ein reines Wohnviertel in dem das alte Nizza lebte und wohnte. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Zum einen reihte sich hier eine alte Villa, an ein altes Hotel. Und auf den Straßen waren nur Menschen die deutlich im Ruhestand sind. Hier konnte man die Luft atmen, die Cary Grant „Über den Dächern von Nizza“ geatmet hatte. Oft sah ich nach oben, um zu schauen, ob er noch elegant von Dach zu Dach sprang, Hier war Mittelmeer und Eleganz. Hier war Grazie selbstverständlich.

Auf dem Ende des Hügels angekommen, konnte man sich die Überresten eines römischen Theaters bestaunen, sich an der der Schönheit des Zypressenparks erfreuen. Oder auch die schlichte Pracht, des mit rotem Stein verklinkerten Renaissance Gebäudes, dass das Matisse Museums beheimatet, genießen.

Im Park gab es ein kleines Kinderkarussell hinter zwei Bäumen. Eine ältere Dame ließ dort Kinderherzen hochschlagen. Und die Mütter und ich erfreuten uns an der dazu gespielten alten französischen Chansons. Weit weg von zu Hause, der Stadt und alleine in diesem Park, fühlte ich mich, wie Mitten in einem alten Nouvelle Vague Film von François Truffaut.

Bei dieser „Filmmusik“ des Karussells kam mir das kleine Taschenbuch von Ken Wilber in den Sinn, das ich während meiner Reise lass. In „Wege zum Selbst“ beschreibt er die Konflikte und Probleme, die man im Leben mit sich und anderer hat, als Ergebnis von Grenzen, die wir selber ziehen. Grenzen zu anderen, Grenzen in uns selbst und Grenzen in der Sprache. Und als ich vor diesen Karussell stand und den wenigen Kindern zusah, fiel mir folgendes Zitat von einem Zen-Meister aus dem Buch ein. Darüber das es keine Wege zum Selbst und keine Erfüllung gibt, denn alles ist schon in uns:

„Nicht wissen, wie nah die Wahrheit ist,

suchen die Menschen sie weit weg – wie schade!

Sie gleichen dem, der inmitten des Wassers

So flehend seinen Durst hinausschreit.“



2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

finde es ziemlich respektlos, menschen als strassenköter zu titulieren...

Morecgn hat gesagt…

Lieber Herr Anonym!

Jeder der Blogs schreibt freut sich über Reaktionen. Auch über solche wie Deine. Nur kann man nicht mit jemand der anonym ist diskutieren.

Von daher einen schönen Tag.

Wo auch immer du bist!